Wenn dir das Leben Zitronen gibt

In Flogsta, einem Stadtteil von Uppsala in Schweden, gibt es seit den 1970er Jahren ein abendliches Ritual.

Pünktlich um 22 Uhr öffnen sich - vor allem in den Studentenheimen - die Fenster.

Diese werden geöffnet, um etwas hinauszulassen.

Hinaus in die dunkle Nacht soll vor allem Belastendes.

 

Angst, Wut, Stress, Ärger, Verzweiflung, Himmelschreiendes.

 

Ja genau, das Wort „himmelschreiend“ trifft es gut.

 

In Flogsta wird nämlich allabendlich um 22 Uhr in den Himmel geschrien, was die Kehle hergibt.

Wer mag, wickelt sich in warmes Gewand, öffnet das Fenster und brüllt.

AAAs und ÄÄÄs und ÜÜÜs und EEEs und ÖÖÖs und IIIs und OOOs.

 

Wäre ich in Flogsta, ich würde mitmachen.

Denn ich hätte auch einiges hinauszuschreien.

 

Wut und Unverständnis und Traurigkeit und Verzweiflung und Fassungslosigkeit.

 

Und Fragen an das Leben.

 

Warum es mir zum Beispiel Zitronen in der Größe von Wassermelonen serviert, das Leben, und erwartet, dass ich daraus wohlschmeckende Limonade mache.

 

Vor drei Wochen hätte ich noch anders aus dem Spitalfenster geschrien, viel wilder und direkter und ungehaltener und aggressiver und verzweifelter.

 

Aber zum jetzigen Zeitpunkt würde ich das Leben schon wieder etwas höflicher anbrüllen, so in der Art…

“Sorry, liebes Leben, ich weiß grad nicht, wie das geht.

Wie soll ich aus diesen gewaltigen Zitronen Limonade machen?

Ich bin überfordert mit dem, was du von mir verlangst.

Wenn du mich schon vor solche Herausforderungen stellst, dann kannst du gefälligst auch eine Anleitung dafür mitliefern!

Und eine riesengroße Saftpresse, die diese Wassermelonen-Zitronen ordentlich ausdrücken kann.

Und einen LKW-Anhänger voll mit Zucker - oder um es poetischer zu sagen – mit der Süße des Lebens. Denn von Saurem und Bitterem habe ich genug!“…

 

So in etwa würde ich vielleicht aus dem Fenster grölen.

Wenn ich in Flogsta in Schweden wäre.

Allabendlich um 22 Uhr.

 

(Warnung an unsere Nachbarn: Es könnte sein, dass ich kurz mal vergesse, dass ich nicht in Flogsta in Schweden bin. Wenn ihr also ein Brüllen in der dunklen Mühlviertler Nacht hört, dann bin ich das. Bitte nicht erschrecken.)

 

 © Carmen Wurm

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