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Unter den Linden

Die Linde ist mein Lieblingsbaum.

Ich mag alles an ihr.

 

Ihre herzförmigen Blätter bezaubern mich immer wieder.

Weht der Wind hinein, erklingt ein weiches, feines Rauschen.

Lindenblätter tönen niemals so aufdringlich wie Birkenblätter, und sie sind keineswegs so zittrig wie die der Pappel.

Man kann Lindenblätter essen.

Roh oder in Essig eingelegt - und pikant gefüllt.

 

Ihre duftenden, zarten Blüten ergeben einen guten Tee und sind eine Wohltat für die Atemwege.

Den Geruch des Lindenholzes - das gerne von Schnitzern und Bildhauern verwendet wird – liebe ich.

Einzigartig ist für mich auch der Wuchs einer Linde. Mich erinnert ihre Erscheinung an eine umgedrehte Lunge.

 

Vielleicht stehen ja gerade deswegen hier im Garten der Reha-Klinik so viele Linden.

Heute, an diesem Muttertag - den ich allein verbringe - habe ich mich unter eine Linde gelegt.

Nach einem Spaziergang wollte ich rasten.

 

Ich schaute hinauf in das hellgrüne, frische Blätterdach der Linde, durch das feine Sonnenstrahlen blinzelten.

 

Die Sorgen waren weit weg.

Meine Arme streckte ich zur Seite.

Ein Lächeln entkam mir.

 

In diesem Moment war ich weit mehr als eine Frau, die noch immer geschwächt und auf Hilfe angewiesen ist.

In diesem Moment war ich weit mehr als eine Patientin, die nervös auf eine Befundbesprechung wartet.

In diesem Moment war ich weit mehr als eine Erkrankte, die durch Laborwerte, Messungen, Röntgenbilder und Diagnosen in ihre Einzelteile zerlegt wird.

 

Ich verspürte Unbeschwertheit.

Freiheit.
Leichtigkeit.
Ganzheit.

 

Das Gefühl, unabhängig zu sein.

Das Gefühl, gerade jetzt das zu tun, was ICH will.

Das Gefühl, gerade jetzt das zu tun, was mir guttut.

 

Hoffnung durchströmte mich.

„Es wird wieder gut werden“, kam mir in den Sinn.

Leises Vertrauen ins Leben.

 

Unter dieser Linde.

Unter ihrem schützenden Dach.

Unter steinalten, knorrigen Ästen, aus denen blutjunge Blätter treiben.

 

Frisches Grün in jedem Frühling.

Neues Leben jedes Jahr. 

 

 © Carmen Wurm

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Kommentare: 6
  • #1

    Otto Märzinger (Sonntag, 09 Mai 2021 19:23)

    Das zu lesen ist nicht nur Wohltat und Hoffnung für Dich, sonder für alle die diese weichen und lebenden Worte lesen.
    Ich stelle mir vor wie zart und kraftvoll diese Worte aus Deinem Mund klingen würden.
    Wünsche Dir alles alles Gute und viel Erfolg auf dieser Reha.

    Gruß Otto

  • #2

    Vroni (Sonntag, 09 Mai 2021 19:40)

    Deine Worte sind sehr berührend und es klingt eine Hoffnung durch. Das freut mich sehr. Alles Gute und eine baldige Genesung. LG Vroni

  • #3

    Carmen (Sonntag, 09 Mai 2021 21:03)

    Danke Otto!

  • #4

    Carmen (Sonntag, 09 Mai 2021 21:05)

    Danke Vroni!

  • #5

    Gisi (Samstag, 15 Mai 2021 00:10)

    aus einem Kärtner Lied:
    unta a Lindn bin i gsessn
    unta a Lindn sitz i gern
    da kann ma
    wanns windstü is
    s'Herzklopfn hörn.
    Alles Glück für dich,
    lb Carmen. ���

  • #6

    Carmen (Montag, 17 Mai 2021 07:11)

    Danke, Gisi-Moam!